100 Jahre Stadtrecht Radebeul

Ortseingangsschild
Technisches Rathaus

100 Jahre Stadtrecht Radebeul

Radebeul, an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit noch das deutlich kleinste der damaligen Lößnitzdörfer, machte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine beispiellos dynamische Entwicklung durch. Erst 1860, mit gerade rund 500 Einwohnern, war das Dorf mit einem Haltepunkt an die Leipzig-Dresdner Eisenbahn angebunden worden und hatte mit der „Scharfen Ecke“ die erste öffentliche Gaststätte eröffnet. Als vierzig Jahre später, am 24. September 1900, das repräsentative
neue Rathaus, Pestalozzistraße 6, eingeweiht wurde, hatte Radebeul als inzwischen einwohnerreichste und wirtschaftsstärkste Gemeinde zwischen Dresden und Meißen Kötzschenbroda dessen alten Rang als Hauptort der Lößnitz abgelaufen.

Den Grundstein für diese Entwicklung legte der Gemeinderat 1872/73 mit der Ausweisung eines großzügig bemessenen Gewerbegebietes im Osten der Gemeindeflur, die zur Ansiedlung von Industriebetrieben ausdrücklich ermunterte. Bald siedelten sich neben den Werkstätten der sächsischen Staatseisenbahn zahlreiche Privatunternehmen an. Eines der ersten war 1875 die schnell wachsende Chemische Fabrik von Heyden, womit Radebeul zu einem der bedeutendsten sächsischen Standorte der chemischen und pharmazeutischen Industrie avancierte. Mehrere Betriebe zur Herstellung von Schmier-, Dämm- und Farbstoffen, Wasch- und Feinseifen folgten. Mindestens ebenso wichtig wurden die metallverarbeitende Industrie und der Maschinen- und Gerätebau. In Eisenbahnnähe entstanden 1876 und 1883 zwei Eisengießereien, an der Meißner Straße etablierten sich 1887 die Union-Werke (Schilder und Blechverpackungen) und 1894 die Maschinenfabrik August Koebig. Zum dritten bedeutenden Sektor wurde die Nahrungsmittelindustrie, die vor 1900 schon mit der Alfa-Keksfabrik (1875) und der Feigenkaffeefabrik
von Otto E. Weber (1878) vertreten war. Die Liste ließe sich fortsetzen. Die meisten dieser Unternehmen waren nicht in Radebeul gegründet, sondern erst im Zuge einer nötigen Erweiterung nach hier verlegt worden, wo in Eisenbahnnähe Flächen zu günstigen Preisen zu haben waren und das Dresdner Arbeitskräftepotential genutzt werden konnte. Bis zum Ersten Weltkrieg setzte sich dieses Wachstum in noch stärkerem Tempo fort. Waren 1900 in 30 Betrieben 2.238 Arbeiter beschäftigt, fanden 1914 schon 4.594 Arbeiter und Angestellte in 180 mittleren und größeren Radebeuler Unternehmen Lohn und Brot.

Diese Entwicklung wurde von einem Ausbau der öffentlichen Infrastruktur begleitet. 1875 erhielt Radebeul ein eigenes Postamt, 1878 eine erste Volksschule, 1892 wurde die Radebeuler Kirche geweiht und 1895 das Wasserwerk Neubrunn
fertiggestellt. Die Verkehrsbedeutung wuchs durch den Bau der Schmalspurbahn von Radebeul nach Radeburg (1883/84) und spiegelte sich in den Bahnhofsneubauten von 1876/78 und 1898/1901 wider. 1893 wurde die Gas-Straßenbeleuchtung eingeführt, 1896 begann die Pflasterung der Ortsstraßen, 1897 wurde ein zweites Schulgebäude gebaut, und 1899 erhielt Radebeul eine elektrische Straßenbahnverbindung nach Dresden.

Robert Werner, der 1893 das Amt des Gemeindevorstands übernahm und 34 Jahre lang bekleiden sollte, gehörte früh zu den entschiedenen Befürwortern einer Vereinigung der östlichen oder gar aller Lößnitzgemeinden, um die anstehenden
Aufgaben beim Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge gemeinsam zu schultern und die kommunale Selbständigkeit gegen Eingemeindungsbestrebungen seitens der Landeshauptstadt Dresden zu bewahren. Doch nur das benachbarte Serkowitz fand sich 1904 zu Verhandlungen bereit, die am 1. Januar 1905 in die Vereinigung mit Radebeul unter dessen Namen mündeten.

Den Anfang Februar 1924 durch die Gemeindeverwaltung gestellten Antrag auf Erteilung des Stadtrechts begründete
Robert Werner neben der Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen dafür ausdrücklich damit, dass an einen Zusammenschluß sämtlicher Gemeinden der Lößnitz nicht mehr zu denken sei, nachdem das negative Votum des Kötzschenbrodaer Gemeinderates die 1921/22 bereits weit gediehenen Bestrebungen in dieser Richtung abgebrochen hatte. Dass es sich dabei um eine reine „Titelfrage“ handelte, war allen Beteiligten klar, denn der verfassungsmäßige Unterschied zwischen Stadt- und Landgemeinden war mit der Gemeindeordnung von 1923 aufgehoben.